Der Mnemosyne Atlas – der vollständiger Titel lautet „Mnemosyne, Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance“ – begegnete mir bereits einmal in einer Vorlesung, jedoch so nebenher und kurz erwähnt, dass die Erinnerung an ihn in den folgenden, von Prüfungsstress und anschließender Firmengründung geprägten Jahren unter einem Berg anderer Gedanken begraben wurde. Das will etwas heißen, da ich mich normalerweise ausgesprochen gut an Dinge, die mich so neugierig machen, wie es dieses Werk damals tat, erinnere…
… womit wir eine mehr oder weniger geistreiche Überleitung zur Vorstellung der Titelgeberin des Themas konstruiert hätten:
Die Schutzheilige des Projektes „Mnemosyne“, die Mutter der Musen, ist nämlich die griechische Göttin der Erinnerungskunst höchstselbst (und hat mich ausgerechnet in diesem Punkt im Stich gelassen).
Das Werk
Aby Warburg interessierte sich für das Nachleben der Antike in der europäischen Kultur, und wollte dies anhand seines Projektes mit einer umfangreichen Bildersammlung nachweisen. Er zeigte über die Struktur seiner Bildersysteme, wie sich die „Pathosformeln“ (ein von ihm für bestimmte Motive und Gesten zur Darstellung von Gefühlsausbrüchen geprägter Begriff*) über Zeiten und Kulturen ohne Unterbrechung erhielten.
Sprengung bisheriger wissenschaftlicher Denkmethoden
Die Bildtafeln selbst bestanden aus schwarzen, auf Holzrahmen gespannten Leintüchern, auf die Warburg Fotografien von Bildern mit Stecknadeln anheftete und jeweils zu bestimmten Themen gruppierte. Als „erster Medienwissenschaftler“ (so in der Ausstellung beschrieben) beschränkte er sich nicht ausschließlich auf kunsthistorische Meisterwerke, sondern bediente sich darüber hinaus weiterer Bereiche wie beispielsweise Zeitungsfotos, Mode, Werbeplakaten und Briefmarken. Durch dieses in Konstellation setzen von Arbeiten unterschiedlicher Zeit- und Stilepochen schaffte er bis dato unbekannte inhaltliche Bezüge.
Was im ersten Moment auf mich wie eine Art Moodboard oder willkürliche Ideensammlung wirkte, bei der vielleicht sogar Zusammenhänge mit aller Macht künstlich herbeikonstruiert werden sollen, entpuppte sich als präzise durchkomponiertes Werk, dessen „Arrangements“ auf den Tafeln er zwar bis zum Ende immer mal wieder variierte, die dennoch keineswegs zufällig zusammengestellt oder in ihrer Anordnung beliebig häufig austauschbar sind.
Entstehung
Der Bilderatlas entstand während Warburgs letzter Lebensjahre und blieb aufgrund Warburgs plötzlichem Tod unvollendet, die originalen Bildertafeln gelten bis heute als verschollen. Warburg, der seit seiner Jugend an Depressionen litt, wurde als Bankierssohn einer streng religiösen jüdischen Familie geboren. Er rebellierte früh gegen deren Rituale und Berufspläne, und verkaufte sein Erstgeborenenrecht in die Firma einzutreten, bereits als Dreizehnjähriger an seinen jüngeren Bruder. Bezahlen ließ er sich dies mit dessen Zusage, ihm zeitlebens alle Bücher zu kaufen die er brauchen würde. Gegen den Widerstand seiner Familie studierte er schließlich Kunstgeschichte und reiste später in die USA, wo er unter Anderem die Kultur der Hopi Indianer studierte. 1897 heiratete er – erneut gegend den Willen des Vaters – die protestantische Hamburger Künstlerin Mary Hertz, mit der er drei Kinder haben sollte. Nach den gemeinsamen Jahren in Florenz kehrte das Paar 1904 nach Hamburg zurück, wo Warburg in den folgenden Jahren sehr aktiv im Kulturleben wirkte, und die kulturwissenschaftliche Bibliothek Hamburg, die er in seinem Haus gründete, zu einer Institution wurde.
Jude und deutscher Patriot
Aby, der sich selbst als „Jude von Geburt, Hamburger im Herzen, im Geiste Florentiner“ bezeichnete, wurde durch den mittlerweile drohenden und schließlich ausbrechenden Krieg zunehmend aus dem Gleichgewicht gebracht: Die Niederlage verkraftete er nicht, und erlitt nach der Kapitulation Deutschlands einen psychischen Zusammenbruch, auf den Jahre folgten, die er in verschiedenen geschlossenen Anstalten verbringen musste.
Auf den Weg der Genesung brachte ihn unter Anderem sein Versuch, sich in die Rolle des Wissenschaftlers zurückzubringen, indem er im Sanatorium einen Vortrag über seine frühere Expedition zu den Hopi und deren Schlangenritual hielt. 1924 konnte er – als geheilt geltend – schließlich entlassen werden, und begann in Hamburg mit seinem letzten großen Projekt, dem Bilderatlas, an dem er arbeitete bis er 1929 einem Herzinfarkt erlag.
Nachdem der Atlas über Jahrzehnte hinweg nur vereinzelt Beachtung in der Fachwelt fand, wurde 1993 und ´94 zum ersten Mal eine Rekonstruktion anhand von fotografischen Reproduktionen, die von den Originaltafeln zu Lebzeiten Warburgs auf Anraten von Fritz Saxl angefertigt wurden, in Wien und Hamburg ausgestellt.
Mittlerweile kann man eine Reproduktion in Buchform kaufen (oder mir zu Weihnachten schenken… 😛 )
Der liebe Gott steckt im Detail
Interessant fand ich in der Ausstellung auch die Informationen über die schönen, von ihm geprägten Begriffe: So etwa die erwähnte „Pathosformel“, die zur „barocken Muskelrethorik“ wird, wenn „das Pathos sich nach der Renaissance verselbstständigt und ohne Spannung seine Kräfte spielen lässt„, oder die „Bilderfahrzeuge“, wie er die „mobilen Bildmedien“ – nämlich Teppiche und Druckgrafiken – nannte.
Als „Denkraum“ – einen Freiraum geistiger Entdeckungsreisen – bezeichnete er seine Hamburger Bibliothek, und sein Ausspruch „Der liebe Gott steckt im Detail“ bezieht sich auf das Studieren ganz unterschiedlicher Dokumente, das Erfassen von vielen Details, um darüber ein tieferes Verständnis für den (Bild-)zusammenhang/ das Gesamte zu erhalten.
Er suchte nach Mythen, Allegorien und Symbolen, analysierte Faltenwürfe und wehendes Haar („bewegtes Beiwerk„), und etablierte mit der Ikonologie einen neuen Forschungszweig der Kunstgeschichte, der die Formanalyse und Ikonografie um die symbolische Deutung des jeweiligen Werkes erweiterte. Zum ersten Mal wandte er den Begriff der „ikonologischen Analyse“ zur Beschreibung seiner Arbeitsweise in einem Vortrag über seine Entschlüsselung des astrologischen Bildprogrammes der Fresken im Palazzo Schifanoia (Ferrarra) an.
Nun besuchte ich kürzlich die anlässlich seines hundertfünfzigsten Geburtstages stattfindende Ausstellung, und hatte mir nicht zu viel erhofft:
Man findet hier die bislang genaueste und vollständigste Rekonstruktion des Werkes in Form von 63 Tafeln im Maßstab 1:1. Ergänzend dazu Kommentare, die die Erkenntnisse aus Warburgs Schriften mit einer detaillierten Analyse seiner Bildsprache zusammenfühen.
Abgesehen davon habe ich den Besuch als eine Art „Initialzündung“ empfunden, mich nach Jahren endlich intensiver mit dem Werk und der Person Aby Warburg zu beschäftigen, die ja noch weit mehr als diesen „Mythos“ des Mnemosyne Atlas bietet, der nach jahrzehntelanger Nichtbeachtung mittlerweile gefühlt schon Kultstatus erlangt hat.
Ich kann folglich jedem meiner Leser nur empfehlen, sich die Ausstellung über dieses Werk, das bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als Legende galt, bei Gelegenheit anzuschauen, zumal es natürlich völlig unmöglich ist dem Ganzen mit einem kurzen Blogeintrag auch nur annähernd gerecht zu werden, da meine Beschäftigung damit ja bislang leider auch noch vergleichsweise oberflächlich war.
Nachfolgend noch ein paar obligatorische qualitativ minderwertige Smartphone- Bilder von der Ausstellung 😉
* mehr zum Begriff der Pathosformel: Aby Warburg: Der Tod des Orpheus. Bilder zu dem Vortrag über Dürer und die Italienische Antike. In: Dieter Wuttke, Peter Schmidt:Aby Warburg und die Ikonologie. Wiesbaden 1993
Der Artikel erschien zuerst am 10. Nov. 2016